Stempel auf Buchseite
NS-Raubgut
Kriegsverluste

„Bücher, Bücher, hunderttausend Bücher…“

Gedanken zur Objektautopsie bei umfangreichen Untersuchungskorpora
Tobias P. Jansen

„Bücher, Bücher, hunderttausend Bücher…“ – ganz so viele Untersuchungsobjekte wie im berühmten Ausruf des Professor Abronsius aus Königsberg sind es nicht im Korpus, das im Projekt zur Ermittlung von NS-Raubgut in der Universitäts- und Landesbibliothek Bonn untersucht wird (rund 94.000 Zugänge). Nichtsdestotrotz steht die schiere Masse der zu betrachtenden, im Rahmen eines buchzentrierten Provenienz-Projekts zu autopsierenden Objekte im Mittelpunkt der folgenden kurzen Überlegungen. Bei der Objektautopsie handelt es sich um den wichtigsten und damit grundlegenden Baustein der Provenienzforschung. Daher ist hierbei ein hohes Maß an Gründlichkeit geboten, da sonst unerlässliche Hinweise zur Erforschung einer Provenienz oder einer Objektbiographie fehlen.

Der folgende Beitrag versucht deshalb aus den Beobachtungen des Bonner Projekts heraus, anhand einiger Beispiele ein Plädoyer für eine möglichst genaue Objektautopsie vorzubringen und ein Angebot zur Schließung einer gewissen Lücke, die sich bezüglich buchzentrierter Provenienz-Projekte in Handbüchern auftut, zu unterbreiten. Es sei dabei angemerkt, dass es sich einerseits bei den zu präsentierenden Aspekten nicht um eine systematische Auswertung, sondern um zufällig gemachte Beobachtungen in einem laufenden Projekt handelt. Andererseits ist sich der Verfasser selbstverständlich bewusst, Gefahr zu laufen, Eulen ins bibliothekarische Athen zu tragen. Zu hoffen ist aber, dass mit den folgenden Gedanken und Ausführungen ein Diskussionsbeitrag geleistet oder Anregung zur weiteren Beschäftigung mit diesem Thema gegeben werden kann. Dass es Bedarf an einer solchen Diskussion gibt, haben viele Gespräche mit Fachkolleginnen und -kollegen gezeigt, die Anregungen für diesen Beitrag geliefert haben.

Eine vergleichsweise hohe Anzahl an auf Verdachtsmomente zu überprüfenden Einzelobjekten kann häufig als ein Charakteristikum buchzentrierter Provenienzprojekte beschrieben werden, besonders gegenüber Projekten, die anhand anderer Objekt- oder Sammlungstypen forschen. Nur selten haben sich große geraubte Sammlungen en bloc erhalten; meist findet sich Raubgut in unterschiedlichen Gewichtungen in vielen, wenn nicht sogar allen Teilen einer Altbestandsbibliothek. Es ergibt sich also in solchen Large-Scale Collections (Zuschlag 2022, S. 95 f.) oft ein höherer Autopsieaufwand für diejenigen Bestände, für die ein Anfangsverdacht formuliert werden konnte. Dieser Aufwand wird überdies durch die Materialität des Objekts ‚Buch‘ verstärkt: Bei einer vollständigen Untersuchung des Objekts sind hier im Unterschied etwa zu Gemälden oder Statuen unbestreitbar mehr Seiten zu kontrollieren. 

Erscheint es indiskutabel, – um beim selben Bild zu bleiben – eine Statue oder ein Gemälde im Zuge einer Provenienzrecherche nicht sprichwörtlich von allen Seiten zu betrachten, so muss derselbe Ansatz doch auch für das Objekt Buch gelten, obgleich es manchmal mehr Seiten aufweisen kann, als Forschenden lieb ist. Kann man etwa angesichts eines über tausendseitigen, großformatigen Lexikonbands leicht der Versuchung erliegen, die Musterung lediglich auf Einband und Titelei zu beschränken, so würde doch niemand auf die Idee kommen, bei einem Gemälde nur die Vorderseite oder bei einer Statue nicht auch die Unterseite zu betrachten, weil hierfür der Aufwand zu hoch erscheint („Rückseitenbefund“, vgl. Zuschlag 2022, S. 85).

Wie also diesem Masseproblem beikommen? Denn oftmals bleiben auch nach der Anwendung des Ausschlussverfahrens, also der Deklaration von Bänden als ‚nicht verdachtsbehaftet‘, etwa als Ergebnis der Durcharbeitung gegebenenfalls vorhandener Quellen wie Akzessionsjournalen oder verschiedener Findmittel, eine Vielzahl von Büchern als potentiell verdächtig bestehen. Eine noch größere Problematik entsteht, wenn solche ergänzenden Quellen zum Objekt teilweise oder in Gänze fehlen.

Wirft man nun aber auf der Suche nach einem Best Practice-Beispiel einen Blick in gängige Handbücher zur Provenienzforschung, so sind dort erstaunlicherweise keine diesbezüglichen normativen Vorgaben zu finden. Nach einer Auswertung von vier häufig verwendeten, qualitätvollen Handbüchern beziehungsweise Einführungen kann festgestellt werden, dass hier selbstverständlich betont wird, dass autopsiert werden muss und welche Merkmale (meist nur in Auswahl) in oder an einem Buch gefunden werden können, nicht aber, wie genau eine Autopsie vonstatten zu gehen hat und worauf dabei zu achten ist (Albrink 2006, bes. S. 161-163; Alker 2017, bes. S. 16-25; Leitfaden 2019, bes. S. 45-56; Zuschlag 2022, bes. S. 85 f.). Lediglich die Wichtigkeit der Erfassung „sämtliche[r] Hinweise“, also aller in einem Buch vorhandener Provenienzmerkmale, wird betont (Alker 2017, bes. S. 17). Ähnlich verhält es sich bei publizierten Rechercheergebnissen, die auch auf die hinter der Analyse stehende Methodik eingehen, wie etwa denjenigen der NS-Provenienzforschung an der UB Salzburg (Schmoller 2012, bes. S. 129-133) – was jedoch nicht als Kritik verstanden werden soll!

Vorgeschlagen werden kann an dieser Stelle ein dreistufiges Verfahren, das in der ULB Bonn erfolgreich zur Anwendung gebracht wurde: Wurde ein Bestand zur Untersuchung ausgewählt, so kann die Zahl der näher zu analysierenden Bücher in einem ersten Schritt in Bibliothekszugänge der Zeit vor und nach dem Stichjahr 1933 eingeteilt werden. Hierbei sind die Zugänge der Zeit zwischen 1933 und 1945 von besonderem Interesse, für Zugänge nach 1945 lediglich die antiquarischen Erwerbungen oder Bestandszugänge.

In einem zweiten Schritt kann sodann eine oberflächliche Autopsie durchgeführt werden. Durch eine Musterung der äußeren Bereiche eines jeden Buchs (Einband, Titelei etc.) können nun weitere Exemplare von einem Verdacht befreit werden: So lässt sich etwa mittels eines Abgleichs von Erscheinungs- und Akzessionsjahr bestimmen, ob es sich um einen Neukauf der Bibliothek handelt. Weitere Kombinationsmöglichkeiten als Ausschlusskriterien, die jedoch ganz von den Bestandsspezifika abhängen, sind hier denkbar.

Im dritten und letzten Schritt sind nun alle noch nicht verdachtsbefreiten Bände einer Detailautopsie, sprich einer Autopsie des Buchs von allen Seiten, Seite für Seite, zu unterziehen, um somit für diese gegebenenfalls einen definitiven und fundierten Raubgut-Verdacht äußern zu können. Nicht ausreichend ist es, bei der seitengenauen Autopsie nur die freigelassenen Ränder neben dem Schriftspiegel (Bund-, Kopf-, Außen- u. Fußsteg) zu kontrollieren, da sich auch auf dem Textblock Merkmale finden lassen, die dort platziert wurden, um diese etwa vor Beschnitt bei einer Neubindung des Buchs zu schützen. Sollte ein Buch bereits einmal beschnitten worden sein, sind von ehemals vorhandenen Merkmalen häufig nur minimale Rückstände geblieben.

Zuletzt gilt es auch, vollständig entfernte Merkmale zu dokumentieren, obwohl von den eigentlichen Merkmalen nichts oder nur noch wenig zu erkennen ist: Herausgewaschene Stempel etwa hinterlassen gewelltes Papier, herausgekratzte Merkmale raue oder durchscheinende Stellen. Ein gutes Maß an Gründlichkeit bei der Autopsie ist trotz der selbstredend strapazierenden Natur dieses Vorgangs geboten.

Freilich sind, rein statistisch betrachtet, Provenienzmerkmale am häufigsten an den außenliegenden Partien eines Buchs – am Einband und am Schnitt, den Buchspiegeln, auf Titel- und letzter Seite – zu finden; sie sind sowohl für das seinerzeitige Anbringen als auch für das heutige Auffinden von Merkmalen am einfachsten zugänglich. Hier findet sich das Gros der Merkmale, aber eben auch bei weitem nicht das ganze Korpus. Diese Stellen sind allerdings von Zeit zu Zeit nicht mehr erhalten, etwa wegen einer Neubindung, bei welcher der originale Einband und Buchspiegel ohne dolose Absicht entfernt und als nicht dokumentierenswert betrachtet entsorgt wurde (vgl. auch Alker 2017, S. 18).

Solche bestanderhaltenden Maßnahmen, die natürlich primär das Ziel der Erhaltung des texttragenden Buchblocks verfolgen, konnten aus verschiedenen Gründen nötig werden: etwa aufgrund der im Bibliotheksbetrieb normalen mechanischen Beanspruchung oder – wie verstärkt im Fall der ULB Bonn – aufgrund von durch Feuer, Wasser oder Auslagerung hervorgerufenen Kriegsschäden oder Verschmutzungen. Auch andere Schadensbilder können das Fehlen von Buchbestandteilen bedingen: etwa der Papierzerfall, bei dem sich die äußeren Teile eines Buchs zersetzen, da sie am ehesten der Luft ausgesetzt sind. Einmal lockere oder lose innenliegende Teile gehen im normalen Bibliotheksbetrieb leicht verloren.

Eine seitengenaue Autopsie ist aus den o. g. Gründen zur möglichst vollständigen Erfassung aller Raubgut-Fälle unerlässlich, eine wesentlich schneller und entsprechend in derselben Zeit für eine höhere Anzahl Bände durchzuführende oberflächliche Autopsie reicht häufig nicht aus. Dies sei stellvertretend anhand dreier Beispiele illustriert:

1. Der erste Fall betrifft einen geraubten Band, der einen sozialdemokratischen Entzugskontext aufweist und im September 1935 durch den Bürgermeister von Oberwesel an die UB Bonn gelangte (ULB Bonn, Sign. 51/3461+2; Abb. 2). Dieses Buch weist auf den ersten Blick an den o. g. äußeren Partien keinerlei verdächtige Provenienzmerkmale auf. Dass ein genauerer Blick eventuell lohnen könnte, ergab sich dann aber aus dem Umstand heraus, dass es sich einerseits um ein Werk aus dem linken politischen Spektrum handelt (Karl Kautsky, Terrorismus und Kommunismus. Ein Beitrag zur Naturgeschichte der Revolution, 2. Aufl., Berlin, J. H. W. Dietz Nachfolger G.m.b.H., 1925). Andererseits wurde der Band zu unbekanntem Zeitpunkt, aber nicht zu lang zurückliegend, neu gebunden, wobei der ursprüngliche Einband und die originalen Buchspiegel sowie der Vorsatz nicht erhalten wurden. Dies legte die Möglichkeit nahe, dass hierbei Provenienzmerkmale vernichtet wurden, innerhalb des Buchblocks aber noch erhalten geblieben sein könnten. Der Aufwand, die Durchsicht aller 329 Seiten, sollte nicht umsonst bleiben: Auf den S. 61 und 241 fand sich jeweils ein gut erkennbarer Abdruck eines Reifstempels (39 mm, blaue Tinte) mit der Um- bzw. Inschrift: „· Sozialdemokratische Partei · Bezirksvorstand / Bezirksverband / 'Obere / Rheinprovinz'“. Die weitere hausinterne Recherche ergab hiernach, dass die heute nicht mehr vorhandenen Partien vorne im Buch vor der Neubindung einmal in anderem Zusammenhang kopiert worden waren. Diese glücklicherweise erhaltene einfache Kopie, der nun unikaler Quellenwert zukommt, belegt, dass sich auch auf dem fliegenden Vorsatz recto ehemals der schon bezeichnete Stempel befunden hatte. Aus diesem Wissen heraus ergaben weiterhin die auf dem originalen Broschurtitel, der auf dem neuen Einband aufgeklebt worden war, zu findenden Reste einer radierten Eintragung mit Blaustift (wahrscheinlich die Zahl „50“) einen neuen Sinn: Mittels dieser Nummerierung, die in der Regel von der beschlagnahmenden Stelle vorgenommen wurde, sollten die Bücher leichter Eintragungen auf Beschlagnahmungslisten zugeordnet werden können. Der Entzug von Büchern aus dieser Provenienz im Rahmen des Vorgehens der Nationalsozialisten gegen sozialdemokratische Institutionen konnte inzwischen auch aus Aktenmaterial belegt und die daraus resultierenden Erkenntnisse konnten vertieft werden. Die hierdurch nötig gewordene seitengenaue Autopsie der gesamten Einlieferung durch den Bürgermeister von Oberwesel an die UB Bonn (35 Bde.) brachte weitere sechs Bände aus dem Besitz der SPD sowie zusätzlich fünf Bände aus dem Besitz des Sozialdemokraten Wilhelm Schneider († 1995) sowie einen Band aus gewerkschaftlicher Provenienz (Deutscher Eisenbahner-Verband. Ortsverwaltung Bingen) hervor. Sie wären ohne die Methode der seitengenauen Autopsie nicht erkannt worden.

2. Ein bezüglich der Provenienzmerkmale ähnlich gelagerter komplexer Fall von 17 wertvollen, zwischen 1797 und 1889 erschienenen naturwissenschaftlichen Drucken, u. a. aus der Feder Alexander von Humboldts, die während des Zweiten Weltkriegs aus der Ukraine geraubt worden waren, gestaltet sich folgendermaßen: Die genannten Bücher gelangten erst im Jahr 2016 durch eine Schenkung an die ULB. Durch eine Vorbesitzerin oder einen Vorbesitzer waren Provenienzmerkmale aus dem vorderen Bereich der Bücher herausgeschnitten worden (bspw. ULB Bonn, Sign. W4'2021/503 (2,1); Abb. 3), was aus den oben bereits geschilderten Gründen eine Detailautopsie nötig machte. Diese brachte eine Vielzahl an Provenienzmerkmalen zutage, die sich im Inneren der Bücher erhalten haben und bei der Tilgung glücklicherweise offenbar übersehen wurden: So fanden sich neben Provenienzen aus Kyjiw vor allem Besitzstempel der Bibliothek der Schule für Landwirtschaft und Gartenbau in der ukrainischen Stadt Uman (ovaler Stempel, 27 x 47 mm), die bis heute als Uman National University of Horticulture fortbesteht. In einem Band (ULB Bonn, Sign. W 4‘2021/505 (1,1); Abb. 4) hat sich sogar, eingelegt bei S. XLIII, ein historischer Leihschein aus der Ukraine erhalten. Der Wert der seitengenauen Autopsie ist evident; der Entzug und damit die Restitutionsfähigkeit der Objekte konnte inzwischen aus bestechenden biographischen Recherchen zu einem Vorbesitzer belegt werden, die hier aus Platzgründen aber ausgespart werden können.

3. Der Fall einer weiteren ‚Einlage‘ in einem unter Raubgut-Verdacht stehenden Buch belegt überdies den Wert der seitengenauen Autopsie für die Erstellung einer möglichst umfassenden Objektbiographie: So fand sich in einem Band, der in den Entzugskontext von Büchern aus deutschen Kriegsgefangenenlagern einzuordnen ist (ULB Bonn, Sign. Fc 516/3; Abb. 5), ein ursprünglich bei S. 170/171 eingelegter Ausschnitt, der als Fragment der Zeitung „Le Trait d’Union“, Nr. 90 vom 08. Juni 1941 identifiziert werden konnte. Über die bereits bekannte Information hinaus, dass der Band ursprünglich zur Lagerbibliothek des Stammlagers XII / A - Limburg an der Lahn gehörte und 1943 in der UB Bonn akzessioniert wurde, gelingt nun eine weitere wertvolle Schlussfolgerung: Die französischsprachige Romanbiographie des bekannten zeitgenössischen Pariser Autoren Francis Carco († 1958) (Le roman de François Villon [Le roman des grandes existences 4], Librairie Plon. Les petit-fils de Plon et Nourrit, Paris [1926]) befand sich spätestens seit 1941 im Lager und wurde dort von einem französischsprachigen Kriegsgefangenen gelesen. Der Gefangene verwendete mutmaßlich als Lesezeichen ein Stück Zeitungspapier. Dieses gehört zum Blatt „Le Trait d’Union“, einer kostenlosen Zeitung für französische Kriegsgefangene, die zwischen 1940 und 1945 in Berlin erschien und deutsche Propaganda enthielt (Laska 2003, S. 237). Warum der Gefangene das Buch nur bis zur S. 170/171 lesen konnte oder er aber diese Seiten als erinnerungswürdig kennzeichnete, muss aufgrund der Anonymität des Nutzers Spekulation bleiben. Das durch die seitengenaue Autopsie aufgefundene Fragment öffnet nichtsdestotrotz in eindrucksvoller Weise ein Fenster in den Alltag des Limburger Kriegsgefangenenlagers vor rund 84 Jahren.

Wäre in den drei genannten Fällen, die nur ein kleines Spektrum der in der ULB Bonn bislang erfassten rund 360 verdächtigen Provenienzen darstellen, keine seitengenaue Autopsie erfolgt, hätten die betreffenden Bände nicht als Verdachtsfälle erfasst werden können.

Konnte obenstehend lediglich auf zwei häufige Arten von Provenienzmerkmalen eingegangen werden – Besitzstempel und Einlagen –, so ist die Frage, welche anderen Arten von Merkmalen sich darüberhinausgehend innerhalb von Büchern finden lassen, in stark verkürzter Form folgendermaßen zu beantworten: Alle Arten von buchtypischen Merkmalen, die nicht von ihrer Art her an die äußeren Partien des Mediums Buch (Einband, Vorsatz, Titelseite etc.) gebunden sind (Supralibros, Signaturetiketten, Exlibris etc.), können an jeder beliebigen Stelle innerhalb des Buchblocks zu finden sein.

Bietet der T-PRO Thesaurus der Provenienzbegriffe bekanntermaßen eine belastbare Übersicht über die zu erwartenden Möglichkeiten an Provenienzmerkmalen, so sei als letzter Abschnitt des vorliegenden Beitrags auf einige der am häufigsten im Buchinneren vorkommenden Merkmale eingegangen:

Abermals ist hier das Provenienzmerkmal des Stempels zu nennen: Dieses kann nicht nur an den äußeren Buchpartien angebracht werden, sondern auch innerhalb des Buchs als so genannter Geheimstempel. Dabei handelt es sich um einen Sicherheitsmechanismus, „um das Bibliotheksgut vor Entwendung zu schützen oder als eigenen Besitz in fremden Händen identifizieren zu können“ (Lexikon des gesamten Buchwesens, Bd. 3, S. 116 f.). Diese oft kleiner als der ‚Hauptstempel‘ gehaltenen Exemplare befinden sich aus Gründen der Findbarkeit in der Regel in den Büchern einer Institution (und in weniger häufigen Fällen auch in Büchern von Privatsammlerinnen oder -sammlern) stets an derselben Stelle, etwa auf S. 33, auf dem ersten Blatt der zweiten Lage oder auf der Rückseite von Tafeln, Karten o.ä. Der Vorteil für Provenienzforschende ist dabei derjenige, dass diese Merkmale von ihrer Art her eine höhere Überlieferungschance besitzen als Merkmale an den äußeren Buchpartien, die leichter der absichtlichen Vernichtung oder einem unabsichtlichen Verlust zum Opfer fallen können. Als nachteilig erweist es sich aber, dass verschiedene Institutionen auch verschiedene Gepflogenheiten in Bezug darauf aufweisen, wie, in welcher Anzahl und an welchen Stellen sie ihre Geheimstempel einheitlich anbringen. So stempelte beispielsweise die Hauptbibliothek der ehemaligen NS-Ordensburg Vogelsang stets auf der letzten Seite des Haupttexts, und die Universitätsbibliothek Bonn ehemals stets auf S. 33.

Hinzu kommt auch der Umstand, dass viele Einrichtungen zwar Geheimstempel verwenden, innerhalb der in ihrem Besitz befindlichen Bücher aber uneinheitlich stempeln, also die Stempel in verschiedenen Büchern stets an verschiedenen Stellen anbringen. Dies erhöht zwar einerseits den Faktor des Stempels als besitzsicherndes Merkmal, erschwert aber entsprechend für die heutigen Nutzenden die Findbarkeit der Merkmale. Beispiel für solche eher ‚wild‘ stempelnden Institutionen ist etwa die Bibliothek des ehemaligen SPD-Bezirksvorstands des Bezirksverbands ‚Obere Rheinprovinz‘, die in einem Buch ihren Besitzstempel auf den Seiten 3 und 89 (ULB Bonn, Sign. Rf 148/561) und im nächsten auf dem Schmutztitel sowie den Seiten 33 und 97 aufbrachte (ULB Bonn, Sign. Ll 702/138; Abb. 6 u. 1). Dieses Beispiel ist zudem Beleg dafür, dass Geheimstempel eben nicht nur „von großen Bibl.en“ verwendet wurden, wie vom „Lexikon des gesamten Buchwesens" angegeben (s. o.) sondern auch kleine Bibliotheken, wie diejenige der Redaktion des Organs des Zentralverbands christlicher Holzarbeiter Deutschlands „Der Holzarbeiter“, einer gewerkschaftlichen Provenienz, in dieser Weise verfuhren (vgl. ULB Bonn, Sign. 50/5163, Redaktionsstempel auf dem vorderen Buchdeckel, der Titelseite sowie den S. 5, 23, 27 u. 99). Besonders Leihbüchereien (bspw. ULB Bonn, Sign. Fb 638/18), die Bücherei der ehemaligen Reichsschule NSDAP in Bernau / Berlin, oder die Agency for intellectual relief in Germany sind aus der Erfahrung des Bonner Projekts heraus zu nennen.

Auch im Fall der Geheimstempel erweist sich eine seitengenaue Autopsie verdächtiger Bücher also als unerlässlich, da einerseits die Positionen, an denen diese zu finden sind, aus offensichtlichen Gründen nicht vorab bekannt sind oder publik gemacht werden und andererseits bei uneinheitlich stempelnden Einrichtungen solche Informationen überhaupt nicht vorliegen können. Ferner ist auch auf den oft eine gewisse Unschärfe verursachenden ‚Faktor Mensch‘ als Provenienzmerkmale einbringende Instanz hinzuweisen, der bei Objektautopsien stets mit einzukalkulieren ist.

Als zweite große Gruppe an Provenienzmerkmalen sind die so genannten Einlagen zu nennen, womit grundsätzlich alles beschrieben werden kann, was sich dem Namen nach in ein Buch von seiner physischen Beschaffenheit her hineinlegen lässt, beispielsweise Briefe und Fotografien, oder alles, was sich als Lesezeichen verwenden lässt, wie bereits oben am Beispiel des Zeitungsausschnitts verdeutlicht. Diese Objekte im Objekt dienen natürlich einerseits als direktes Provenienzmerkmal, indem sie etwa auf einem Brief eine Adresse oder auf einer Fotografie ein Datum bieten oder gar die Leserin oder den Leser selbst abbilden. Andererseits dienen sie auch als indirektes Merkmal, indem sie einen Beitrag zur Rekonstruktion der Objektgeschichte liefern (etwa Fahrkarten, Verlagswerbung, Leih- und Lotteriescheine oder Zeitungsausschnitte). Als weiteres Beispiel hierfür mag ein aus dem Entzugskontext der Zeugen Jehovas stammender Band dienen (Zionslieder für alle christlichen Zusammenkünfte, Verlag der Internationalen Vereinigung Ernster Bibelforscher, Brooklyn, NY, u. a. 1923. ULB Bonn, Sign. Gm 267/435). Er wurde am 07.07.1936 von der UB Bonn akzessioniert und zuvor im Amtsbereich des Kreuznacher Landrats beschlagnahmt. Findet sich auf dem vorderen Spiegel der handschriftliche Besitzeintrag einer „Frau Thomas“, so illustrieren mehrere in dieses Gesangbuch eingelegte einfache Papierstreifen zunächst seine rege Nutzung (S. 48/49, 86/87 u. 110/111). Wesentlich eindrücklicher wird die Nutzung des Buchs noch bis in die ersten Wochen und Monate der einsetzenden Verfolgung der Zeugen Jehovas im NS-Staat durch an verschiedenen Stellen eingelegte Kalenderblätter greifbar: Blätter vom 14./15. Mai 1932 (S. 36/37), vom 16./17. Mai 1932 (S. 42/43), vom 18./19. Mai 1932 (S. 28/29) und schließlich vom 8. Mai 1933 (S. 40/41; Abb. 7).  

Als ‚handschriftliche Notizen‘ lassen sich etwa Namenseintragungen, Widmungen und vieles Weitere zusammenfassen. Sie befinden sich häufig in den äußeren Partien eines Buchs, aber eben nicht nur, wie das Beispiel eines Buchs illustriert, das aus einem im Zweiten Weltkrieg besetzten französischsprachigen Gebiet, mutmaßlich Belgien, stammt (Georges Rency, Le Jardin des Images, Vanderlinden, Brüssel 1931. ULB Bonn, Sign. Fc 506/14). Dieser Band, der die UB Bonn 1942/43 vermutlich über die Reichstauschstelle erreichte, stammt aus dem Besitz des Schulkinds Raoul Piérart, der nicht nur auf dem originalen Broschurtitel (heute durch Beschnitt beschädigt) seinen Namen und Schuljahr in Tinte vermerkte, sondern mehrmals innerhalb des Buchs Federproben in Form eines stilisierten Namenszugs eintrug (S. 45 u. 100).

Dieses Beispiel berührt schon in gewisser Weise den letzten hier zu behandelnden Bereich, die so genannten Benutzerspuren. Hierunter fallen zunächst sämtliche Spuren, die Nutzende in einem Buch hinterlassen haben: Anmerkungen, Unterstreichungen, Markierungen oder anderweitige Eintragungen, die nicht zwingend, aber häufig in die Auseinandersetzung des bzw. der Nutzenden mit dem Text einzuordnen sind. Diese Spuren müssen natürlich nicht per se in Zusammenhang mit einem Entzugskontext stehen, können gegebenenfalls aber etwa über einen Schreiberhandabgleich, einen Tintenvergleich oder, abhängig vom Text, aufgrund inhaltlicher Kriterien in einen solchen eingeordnet werden. Sie stellen also nicht nur einen nützlichen oder illustrierenden Beifang zur eigentlichen Buchautopsie dar, sondern können von Fall zu Fall einen veritablen Beitrag zur Erforschung des Objekts leisten. Zugegeben werden muss dabei jedoch, dass Benutzerspuren häufig nur schwer eindeutig zuzuweisen sind und oft nur eingeschränkt in belastbarer Weise zwischen zeitgenössischen und vorzeitigen oder nachzeitigen Eintragungen, eingebracht etwa durch ‚normale‘ Bibliotheksnutzerinnen und -nutzer seit 1945, unterschieden werden kann.

Die Summe dessen ist also, dass es bei druckschriftenzentrierten Projekten zwingend geboten ist, für eine erschöpfende Autopsie eines Bücherkorpus dieses sprichwörtlich stets von allen Seiten her zu betrachten, so viele Einzelobjekte es auch sein mögen. Ja, dies ist immer eine zeitraubende und beanspruchende Arbeit, bei der es gilt, nicht der Ermüdung anheim zu fallen. Sie ist handwerklich delikat, je nachdem wie sich der Erhaltungszustand der Bände präsentiert. Das Ergebnis ist zudem oft frustrierend, wenn bei vermeintlichen Verdachtsfällen, unter Umständen Buchbänden mit tausenden von Seiten, nach tagelanger Arbeit wider Erwarten doch nichts gefunden wird. Eine beständige Hartnäckigkeit in der Sache wird aber doch durch manchen Fund, der bei einer oberflächlicheren Behandlung unentdeckt geblieben wäre, belohnt und motiviert für die weitere Suche.

Es mag zugestanden werden, dass es natürlich zulässig ist, mittels einer oberflächlichen Autopsie einen ersten Überblick über das Analysekorpus zu schaffen oder dieses per Ausschlussverfahren zu verkleinern, besonders bei den genannten Large-Scale Collections. Diese legitime Methodik darf aber nicht dem Ziel zum Opfer fallen, mittels des ‚oberflächlichen Blicks‘ schnell ‚Masse machen‘ zu wollen. Die Lehren aus der Bearbeitung des Altbestands der Bonner ULB zeigen, wie viele Provenienzen und wie viele ihrer Merkmale ohne eine seitengenaue Autopsie nicht hätten erkannt und nicht als zu untersuchende Verdachtsfälle hätten erfasst werden können. Letztendlich verpflichten neben dem zu wahrenden wissenschaftlichen Standard vor allem auch die moralischen Gesichtspunkte, die aufgrund des Entzugskontexts der untersuchten Objekte bestehen, zu dieser transparent zu behandelnden methodischen Herangehensweise.

Ebenso ist klar, dass eine seitengenaue Autopsie großer und selbst mittelgroßer Bestände von vielen Einrichtungen nicht ohne Weiteres geleistet werden kann. In der Konsequenz bedeutet dies, dass dieser erhöhte Zeit- und Personalaufwand, wie er bei Objektprüfungen in Bibliotheken anfallen kann, einerseits bei Projektanträgen vonseiten der antragstellenden Partei eingepreist, andererseits bei der Begutachtung der Anträge durch Drittmittelgeber entsprechend berücksichtigt werden sollte.

Geschlossen werden soll mit dem Hinweis, dass dem Verfasser natürlich bewusst ist, dass die obigen Ausführungen kein sklavisch anzuwendendes Patentrezept darstellen, da jeder Bestand seine eigene Geschichte und seine eigenen Spezifika mitbringt, ebenso wie die gegebenenfalls in ihm enthaltenen Bände aus den verschiedensten Provenienzen. Nichtsdestoweniger wäre es wünschenswert, dass diese Überlegungen dazu beitragen, Büchern verstärkt dieselbe Aufmerksamkeit in puncto Objektautopsie zuteilwerden zu lassen wie anderen Objekten aus dem Spektrum der Kulturgüter, trotz des damit verbundenen höheren Aufwands sowie des teils stark differierenden monetären Werts. Es gilt, der Büchermassen Herr zu werden, denn, um abermals den eingangs zitierten Königsberger Ordinarius zu bemühen, „ein Leben ohne Bücher wär’ Tortur“!

Dr. Tobias P. Jansen ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt Raubgut an der Universitäts- und Landesbibliothek Bonn.

Literatur:

Albrink 2006
Albrink, Veronica, Leitfaden für die Ermittlung von NS-verfolgungsbedingt entzogenem Kulturgut, in: Die Suche nach NS-Raubgut in Bibliotheken. Recherchestand – Probleme – Lösungswege (Schriften der Universitätsbibliothek Marburg 126), hrsg. v. Bernd Reifenberg, Marburg 2006, S. 150-180.

Alker 2017
Alker, Stefan u. a., NS-Provenienzforschung und Restitution an Bibliotheken (Praxiswissen), Berlin u. Boston 2017.

Laska 2003
Laska, Andreas, Presse et propagande allemandes en France occupée: des Moniteurs officiels (1870-1871), à la Gazette des Ardennes (1914-1918) et à la Pariser Zeitung (1940-1944), München 2003.

Leitfaden 2019
Leitfaden Provenienzforschung zur Identifizierung von Kulturgut, das während der nationalsozialistischen Herrschaft verfolgungsbedingt entzogen wurde, hrsg. v. Deutschen Zentrum Kulturgutverluste u. a., o. O. 2019.

Lexikon des gesamten Buchwesens
Lexikon des gesamten Buchwesens, hrsg. v. Severin Corsten u. a., 2. Aufl., Bd. 3, Stuttgart 1991.

Schmoller 2012
Schmoller, Andreas, Einleitung. Erste Fragen, erste Recherchen, erste Ergebnisse, in: Buchraub in Salzburg. Bibliotheks- und NS-Provenienzforschung an der Universitätsbibliothek Salzburg, hrsg. v. Ursula Schachl-Raber   u. a., Salzburg u. Wien 2012, S. 124-133.

Zuschlag 2022
Zuschlag, Christoph, Einführung in die Provenienzforschung. Wie die Herkunft von Kulturgut entschlüsselt wird, München 2022.

Zum Projekt „Ermittlung von NS-Raubgut in der Universitäts- und Landesbibliothek Bonn“ (Dezember 2020 bis Februar 2026)

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Der Stempel auf dem Band der Universitätsbibliothek Bonn verweist auf einen sozialdemokratischen Entzugskontext.