Dr. Valence Silayo forscht derzeit im Linden-Museum Stuttgart zu den Kulturgütern der tansanischen Chagga. Über seine wissenschaftliche Arbeit und die daraus aus seiner Sicht entstehenden Konsequenzen für die Museumsarbeit, die Provenienzforschung und die Politik sprach mit ihm Andreas Bohne (Deutsches Zentrum Kulturgutverluste).
Sie forschen seit fast zwei Jahren im Stuttgarter Linden-Museum zu Kulturgütern. Können Sie bitte kurz Ihre bisherige Forschung skizzieren?
Ein Stipendium der Gerda-Henkel-Stiftung gibt mir die Möglichkeit, im Linden-Museum zu arbeiten. Ursprünglich wollte ich mich auf ethnografische Objekte aus Nordtansania konzentrieren, das aus vier Regionen besteht: Tanga, Kilimanjaro, Manyara und Arusha. Ich beschloss jedoch, mich auf das kulturelle Material der Chagga-Gemeinschaft zu beschränken, um eine eingehendere Forschung zu ermöglichen. Im Linden-Museum sind etwa 450 cultural belongings der Chagga-Gemeinschaft vorhanden, die seit ihrer Einlieferung in das Museum noch nie untersucht wurden.
Zunächst begann ich mit der Durchsicht des Archivmaterials. Der Provenienzforscher Markus Himmelsbach und die Museumsleitung waren sehr hilfreich, indem sie mir mit der deutschen Sprache halfen und mich durch Dokumente navigierten, von denen ich nicht wusste, dass sie existierten. Nach der Archivrecherche analysierte ich die Bestände in den Depots. Ich hatte die Gelegenheit, mit Dr. Fiona Siegenthaler, der Kuratorin der Afrika-Abteilung, zusammenzuarbeiten. Es war eine sehr bereichernde Erfahrung; ich erhielt Informationen aus erster Hand und konnte diese großartigen „Objekte“ näher betrachten und anfassen. Ich werde sie jetzt „Objekte“ nennen, weil sie in den Museumsdepots als „Objekte“ eingeschlossen sind. Aber eigentlich sollten wir sie aus meiner Sicht nicht als „Objekte“ bezeichnen, da sie keinen passiven Charakter besitzen, sondern gewissermaßen als „Subjekte“ gesehen werden sollten. Inzwischen haben Fiona Siegenthaler und ich die Zahl der Objekte von 350 auf 450 erhöht. Denn einige wurden zunächst einer anderen ethnischen Gruppe zugeordnet – den Kahe –, stammen aber aus einem Gebiet etwa 20 km südlich der Stadt Moshi. Aufgrund unserer Forschung konnten sie nun in die Chagga-Sammlungen integriert werden.
Natürlich können wir viele Gegenstände identifizieren, z. B. Waffen, Schmuck und andere Dinge, die dem täglichen Gebrauch in der Gemeinschaft zugeordnet werden können. Aber welche kulturelle Bedeutung liegt ihnen zugrunde? An dieser Stelle ist die Rolle der source community entscheidend. Ich wählte einige Gegenstände aus und ging auf einen einmonatigen Forschungsaufenthalt, um mich mit den Ältesten und anderen Gemeindemitgliedern zusammenzusetzen und mir die Geschichte hinter diesen „Objekten“ und ihre Gedanken erzählen zu lassen: Was ist ihre Perspektive? Was sollte nach ihrer Ansicht mit den Gegenständen geschehen? Die Gespräche waren sehr produktiv. Jetzt müssen wir die Datenbank mit den neuen Informationen, die ich von der Gemeinschaft erhalten habe, aktualisieren.
Außerdem arbeite ich mit Fiona Siegenthaler zusammen, um eine Ausstellung über die Chagga-Sammlungen zu kuratieren, die jetzt im Linden-Museum zu sehen ist. Es ist wichtig zu sagen, dass die von uns verwendeten Informationen nicht meine sind, sondern die, die ich von den Menschen erhalten habe. Sie haben ein Recht darauf, über diese Gegenstände Bescheid zu wissen und Teil des Kurator:innenteams für die Ausstellung zu sein. Aufgrund der räumlichen Entfernung vertrete ich sie und stehe weiterhin mit ihnen in Kontakt. Ich berate mich weiterhin mit ihnen zu verschiedenen Themen. Um die Gemeinschaft zu ehren und zu respektieren, werden wir einen Teil des Geldes der Gerda-Henkel-Stiftung verwenden, um eine Broschüre mit den meisten Gegenständen herauszugeben. Die Broschüre wird an die Bevölkerung, die örtlichen Behörden und Schulen in Tansania verteilt. Wir können nicht alle Objekte in diese Broschüre aufnehmen, aber wir werden einige mit detaillierten Informationen versehen.
Kulturgüter der Chagga befinden sich nicht nur im Linden-Museum in Stuttgart. Was ist über die Sammlungen in anderen deutschen Museen bekannt? Und wie können Synergien geschaffen werden, bzw. welche Schritte halten Sie in Zukunft für sinnvoll?
Sie haben recht, Kulturgüter aus Tansania sind nicht nur im Linden-Museum in Stuttgart untergebracht. Sie sind in fast jedem ethnologischen Museum in Deutschland zu finden. Um Synergien zu schaffen, könnten Museen und Forschungseinrichtungen u.a. zusammenarbeiten bei:
1. gemeinsamen Ausstellungen, die einen umfassenden Überblick über das tansanische Erbe in verschiedenen Sammlungen bieten.
2. digitalen Archiven, um historische Aufzeichnungen und Artefakte für tansanische Gemeinschaften zugänglich zu machen.
3. Bemühungen, die Herkunftsgemeinschaft mit Museumsvertreter:innen und Regierungsbeamt:innen ins Gespräch zu bringen, um Initiativen zur Restitution, Wiedergutmachung und zum Wissensaustausch zu diskutieren.
4. akademischen Partnerschaften mit tansanischen Akteur:innen zur weiteren Erforschung und Kontextualisierung dieser Artefakte.
Ich habe im Rahmen meines Stipendiums einige Museen besucht. Meine Fragen sind: Was besitzen diese anderen Einrichtungen? Wurden die cultural belongings aus Tansania in diesen Einrichtungen von denselben Personen gestiftet oder gesammelt, die auch zum Linden-Museum beigetragen haben? Handelt es sich um dieselben Personen, die zum Beispiel die Gegenstände der Chagga mitgenommen haben? Es geht darum, die Vielfalt dieser Gegenstände in deutschen Museen zu sehen.
Wir müssen eine Bestandsaufnahme in Deutschland machen, ähnlich wie den „Atlas der Abwesenheit“ für kamerunische Objekte. Das ermöglicht uns, einen Überblick über die materielle Kultur Tansanias zu erhalten und auch einen Fahrplan zum weiteren Umgang mit ihr zu gestalten. In der Zwischenzeit sind fokussierte oder Einzelfallstudien entscheidend. Eine Studie, die sich auf tansanische Sammlungen in einer deutschen Institution konzentriert, ist längst überfällig und dringend erforderlich.
Das wird uns helfen zu verstehen, was ich „kulturellen Völkermord“ oder „kulturelle Umwälzung“ nenne. Bitte stellen Sie sich vor, dass wir 450 ethnografische Gegenstände aus einer kleinen Gemeinschaft in einem einzigen Museum aufgestapelt haben, multiplizieren Sie das mit der Anzahl der ethnologischen Museen in Deutschland .... Sie können sich das Ausmaß des kulturellen Schadens für diese Gemeinschaften vorstellen.
Auf dem kürzlich durchgeführten Kolloquium haben Sie die Forderung nach einem "‘Engagement that extends beyond simple expert-led" erhoben – was meinen Sie damit?
Die Forscher:innen in Deutschland und Tansania leisten eine sehr gute Arbeit. Aber wir müssen über unsere Kreise hinausgehen. Das bedeutet, von einem traditionellen, von oben nach unten gerichteten Ansatz, bei dem die Expert:innen das Wissen diktieren, zu einer stärker kooperativen, dynamischen und integrativen Art des Lernens und der Problemlösung überzugehen. Anstatt sich ausschließlich auf Fachwissen zu verlassen, wird der Schwerpunkt auf gemeinsame, gelebte Erfahrungen, unterschiedliche Perspektiven und kollektive Intelligenz gelegt. So würde ein Ansatz, der über das Expert:innenwissen hinausgeht, bei der Restitution und Wiedergutmachung in Afrika integrative, partizipatorische Rahmenbedingungen umfassen, die die Stimmen der betroffenen Gemeinschaften in den Mittelpunkt stellen, anstatt sich ausschließlich auf Rechtswissenschaftler:innen, Politiker:innen oder Historiker:innen zu verlassen.
Die Frage ist: Sollten wir weiterhin Bücher und Artikel produzieren? Ja, Bücher sind großartig. Zeitschriftenartikel sind großartig. Die Berichte, die wir den Geldgeber:innen vorlegen, sind großartig. Aber was dann? Ich meine, die Leute, deren Wissen wir nutzen, verstehen die Bücher und Artikel selten! Sie haben nichts von den Publikationen, aber sie haben Ihnen und uns ihr Wissen zur Verfügung gestellt. Anstatt dass Sie und wir es als Expert:innen präsentieren, sollten die Menschen aus der source community uns doch sagen, wen wir einladen sollten, Teil unseres Teams zu sein.
Ich war einmal in der Gegend um den Kilimanjaro, um zu forschen. Ich zeigte meinen Informant:innen ein Foto einer Kalebasse und einen Umhang. Später erfuhr ich, dass sie Teil einer Hochzeitskleidung aus Rindsleder und Kaurimuscheln waren. Die Diskussion wurde in Form einer Fokusgruppendiskussion organisiert, die Gruppe bestand aus sechs Personen. Eine Frau schaute sich die Fotos an und war völlig aus dem Häuschen, als sie das Motiv sah. Dann lachte sie und sagte: „Sie wissen nicht, wie wir das ehren und respektieren, das war unser Hochzeitskleid. Eine Mutter oder Großmutter würde so etwas für ihre Tochter vor der Hochzeit anfertigen". Wie schön ist es, das von einer Person zu hören, die es praktiziert hat.
Die Kurator:innen von Ausstellungen müssen die Menschen vor Ort, z. B. aus Kilimanjaro, dazu einladen, dieses reichhaltige Wissen und Material zu präsentieren und an der Gestaltung der Ausstellungen mitzuwirken. Die Kurator:innen müssen den Mut haben, den Herkunftsgemeinschaften zu sagen: „Lasst uns gemeinsam an diesem Museum arbeiten. Lasst uns eine Ausstellung konzipieren". Die Kurator:innen müssen auf die Forscher:innen zugehen, um zuzulassen, dass die Menschen vor Ort die Forschung durchführen. Das ist es, was ich meine. Weg von der Leitung durch Expert:innen, hin zur Leitung durch die Gemeinschaft. Umgekehrt ermöglicht dies den besitzenden Institutionen, ihre Rolle neu zu definieren: nicht nur als Aufbewahrungsort für Artefakte, sondern als Raum für sinnvolle Zusammenarbeit, kulturelle Revitalisierung und gleichberechtigte Partnerschaften.
Aber Ihre Forderungen gehen weiter: Sie fordern eine Entwicklung von der Provenienzforschung zur Wissensproduktion, die der Herkunftsgemeinschaft dient.
Ich schlage vor, den Schwerpunkt von der traditionellen Provenienzforschung, die in erster Linie die Herkunft und Besitzgeschichte von Kulturgütern und anderen kolonialen Sammlungen nachzeichnet, auf eine Wissensproduktion zu verlagern, die den Gemeinschaften, aus denen diese Objekte stammen, zugutekommt. In vielen Fällen wurde die Provenienzforschung für Museen, Sammler:innen oder Institutionen durchgeführt, oft ohne sinnvolle Einbeziehung der Herkunftsgemeinschaften. Die Forderung nach Weiterentwicklung bedeutet, über die bloße Identifizierung der Vergangenheit eines Objekts hinauszugehen und zusammen mit den Gemeinschaften, die von den kolonialen Erwerbungen oder kulturellen Entnahmen betroffen sind, neues Wissen zu schaffen und altes Wissen zugänglich zu machen. Anstatt nur die Geschichte eines Artefakts zu dokumentieren, könnten Forscher:innen beispielsweise mit den Herkunftsgemeinschaften zusammenarbeiten, um die kulturelle Bedeutung des Objekts zu verstehen, seine angemessene Darstellung zu gewährleisten und sogar Bemühungen um Rückgabe oder lokale Bildung zu unterstützen. Dieser Ansatz stärkt die Gemeinschaften und macht sie zu aktiven Teilnehmer:innen und nicht zu passiven „Objekten“ wissenschaftlicher Untersuchungen.
Von wenigen Monaten waren Vertreter:innen des tansanischen „National Committee for Discussions on Antiquities, Artefacts and Human Remains residing in Germany“ in Deutschland. Wie sieht das Komitee sich selbst und seine Aufgaben, wie ist es organisiert, und was sind die nächsten Schritte?
In den letzten Jahren haben wir einige Fortschritte von deutscher Seite gesehen, so durch die Entschuldigung von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. In jeder Kultur ist es üblich, dass wenn jemand sagt: „Es tut mir leid, was passiert ist“, und fragt: „Können wir darüber reden?“, wir sprechen sollten. Als Tansanier:innen schätzen wir diesen globalen kulturellen Aspekt – den Dialog – und unsere Präsidentin, Ihre Exzellenz Samia Suluhu Hassani, hat im Namen der Tansanier:innen den Aufruf des deutschen Bundespräsidenten zu einem Gespräch über die deutsche Kolonialvergangenheit in unserem Land angenommen. Die tansanische Regierung ist bereit, mit der deutschen Regierung zu sprechen und einen sinnvollen Dialog auf Augenhöhe zu führen. Das nationale Komitee, auf das Sie sich beziehen, ist das Ergebnis des Treffens zwischen den beiden Präsidenten. Botschafterin Dr. Asha-Rose Migiro, eine langjährige UN-Diplomatin, hat den Vorsitz des Ausschusses inne; Kulturminister Prof. Palamagamba Kabudi ist der stellvertretende Vorsitzende. Außerdem gibt es einen „technischen Ausschuss“, der sich aus Expert:innen und hochrangigen Verwaltungsbeamt:innen verschiedener Institutionen zusammensetzt, zum Beispiel des Nationalmuseums, der Altertumsbehörde, des Ministeriums für Kultur, Sport und Kunst sowie der Wissenschaft.
Ich muss sagen, dass ich weder Sprecher noch Mitglied des Komitees bin, aber ich sehe das Komitee als eine Brücke, die zwischen den Deutschen und den Tansanier:innen gebaut werden muss. Es handelt sich um eine Expert:innengruppe, die unsere Regierung im Umgang mit der kolonialen Verflechtung gegenüber der deutschen Regierung berät. Das Hauptanliegen ist es, die verschiedenen Gemeinschaften des Landes zusammenzubringen, um Verstrickungen zu verhindern.
Dr. Valence Silayo ist Dozent für Archäologie und Heritage Studies an der Universität von Dar es Salaam, Tansania. Seine Forschungsinteressen umfassen verschiedene Aspekte der afrikanischen Archäologie, vorkoloniale Verteidigungssysteme, sozio-politische Strukturen, Materialität und soziale Komplexität, Restitution und Wiedergutmachung. Derzeit ist er als Gerda-Henkel-Forschungsstipendiat am Linden-Museum Stuttgart tätig, um die ethnografischen Gegenstände der Chagga-Gemeinschaft zu erforschen, die im Linden-Museum aufbewahrt werden.