Mehr als 200 Namen von Einzelpersonen und Institutionen der jüdischen Gemeinden Berlins sind in dem über 4000 Bände umfassenden Buchbestand Ernst Wolff (Moses Mendelssohn Akademie Halberstadt) annotiert. Die Sammlung besteht zu einem großen Teil aus Alltags- und Schulliteratur, juristischen Fachbüchern, Gesetzestexten, Zeitschriften und Noten.
Ursprünglich gelangte der Bestand nach Kriegsende 1945 in den Besitz von Ernst Wolff, einem Berliner Juden, der die Shoa im Versteck überlebt hatte. Nach aktuellem Forschungsstand stammen die Bücher weitgehend aus dem Besitz von deportierten Personen und wurden im Zuge der Vermögensverwertung durch die Finanzbehörden in den Gebäuden der ehemaligen Synagoge am Kottbusser Ufer eingelagert. Ab Januar 1944 vermietete das Finanzamt einen Teil der separaten Jugendsynagoge an den Kunst- und Antiquitätenhändler Rudolf Sobczyk. Allerdings ist es wahrscheinlich, dass die Bücher zu diesem Zeitpunkt bereits in diesem Gebäude untergebracht waren und zu einem großen Teil nicht mit Sobczyk in Verbindung gebracht werden können. Unmittelbar nach Kriegsende begannen Wiederaufbauarbeiten in der Jugendsynagoge, wobei das dort eingelagerte Gut zunächst durch die amerikanische Militärverwaltung ausgeräumt wurde. Ernst Wolff, der bei den Arbeiten geholfen hatte, erwarb mit Unterstützung des Bezirksamts Kreuzberg einen Teil des Lagerbestands, darunter auch die durch die Finanzbehörden enteigneten Bücher. In Holzkisten verpackt, wurde der Bestand schließlich 2018 durch den Erben Ernst Wolffs an die Moses Mendelssohn Akademie übergeben, mit dem Ziel, die Sammlung wissenschaftlich aufzuarbeiten und mögliche Restitutionen vorzubereiten.
So bestand eine der zentralen Aufgaben des Forschungsprojekts in der Erfassung und Identifikation der in den Büchern notierten Namen. Nicht alle von ihnen konnten identifiziert werden, nicht alle Lebensgeschichten konnten nachvollzogen werden. Und bei einigen warf der Versuch der Identifikation mehr Fragen als Antworten auf. Einen solchen Fall stellen die über 50 mit dem Nachnamen Freud annotierten Bücher dar. Schon früh im Verlauf des Projekts stand die Möglichkeit im Raum, dass es sich bei diesen Büchern um Exemplare aus dem Besitz der Berliner Familie des berühmten Psychoanalytikers Sigmund Freud (1856–1939) handeln könnte.
Dass es für Forscher:innen schwierig sein kann, Personen zu identifizieren und mögliche Verlustkontexte zu rekonstruieren, kann hier am Beispiel Tomas Freud aufgezeigt werden, insbesondere weil die Geschichte der Familie Freud bekannt und relativ gut erforscht ist. Das Problem mit dem Namen Tomas ist, dass er in der umfangreichen Forschung zur Familie Freud nicht auftaucht. Der Name ist allerdings mehrfach und teils in Verbindung mit weiteren Eintragungen in den Büchern enthalten, die aufgrund von Widmungen und Adresseinträgen ein direktes Verhältnis zu den Berliner Freuds nahelegen.
Im engeren Sinn bestand die Familie aus dem Ehepaar Marie ‚Mitzi‘ Freud (1891–1942/43) und Maurice/Moritz Freud (1856–1920) sowie deren vier Kindern: Margarete Freud (1887–1984), Lilly Freud (1888–1970), Tom (Martha Gertrud) Freud (1892–1930) und Theo Freud (1904–1923). Tom Freud hatte den neuen Namen in ihrer Jugendzeit gewählt und behielt ihn auch in der Ehe mit dem Verleger Jakob/Jankew Seidmann (1859–1929) bei.
Mehrere Widmungen enthalten bekannte Namen der Familie, wie Lilly, Maurice, Theo und Gretchen [Margarete], und auch eine Widmung an Tom Freud ist neben dem Eintrag von Tomas Freud zu finden. So ist etwa in einem Exemplar von Carmen Sylvas A Real Queen‘s Fairy Book von 1901 [Abb.1; B120] eine Widmung an „Gretchen“ zu Weihnachten eingetragen, die neben einer mit Bleistift geschriebenen Notiz steht, dass das Buch an Tom eingetauscht wurde, während auf dem Schmutztitel der Name Tomas Freud erscheint. Ein weiteres Exemplar [Abb.6; B2381], das Jahrbuch des Deutschen Werkbundes von 1913, enthält die Widmung an „Fräulein Tom Freud“ und beweist damit, dass es sich bei den im Buchbestand Wolff erhaltenen Büchern tatsächlich um Teile der Bibliothek von Tom Freud handelt.
In meiner Recherche zur Frage der Identität von Tomas Freud habe ich mit mehreren Expert:innen zu Tom Freud beziehungsweise der Familie Freud gesprochen, wobei keine klare Lösung für die Frage „Wer ist Tomas Freud“ gefunden werden konnte. Tom Freud war Kinderbuchautorin und Illustratorin, deren Werk erst in den 1980er Jahren wiederentdeckt und durch die Arbeit von Barbara Murken (s.u., Literatur) zugänglich gemacht wurde. Freud wuchs in Berlin auf, studierte in London und lebte schließlich bis 1920 in München-Schwabing. Zusammen mit ihrem Mann Jankew Seidmann und Chaim N. Bialik gründete sie den Peregrin-Verlag, in dem auch ihre eigenen Bücher erschienen. 1922 wurde die Tochter Angela geboren.
Das finanzielle Aus des Verlags führte 1929 zum Selbstmord von Jankew Seidmann, dessen Tod Tom Freud verzweifeln ließ.1930 beging auch sie Suizid. Die gemeinsame Tochter Angela Aviva (1922–2011) wurde von Lilly Freud und ihrem Mann, dem Schauspieler Arnold Marlé (1887–1970), adoptiert und zog mit ihnen 1933 nach Prag, bevor sie schließlich 1938 nach Palästina emigrierte. Tom Freuds Mutter emigrierte nach Wien und wurde von dort 1942 zusammen mit ihren drei Schwestern deportiert und in Treblinka ermordet. Ein ebenfalls in Berlin lebender Onkel, Ernst L. Freud (1892–1970), war bereits 1933 mit seiner Familie nach London ausgewandert.
Die verschiedenen Eintragungen von Tom/Tomas Freud sowie die Widmungen und Zueignungen, die hier beispielhaft gezeigt sind, lassen den Schluss zu, dass es sich bei Tomas Freud tatsächlich um Tom Freud handelt. Auch wenn der Name Tomas bislang in der familiären Korrespondenz nicht registriert wurde, ist es denkbar, dass Tom Freud den Namen Tomas eine Zeitlang und womöglich nur im Privaten beziehungsweise gegenüber ihrem jüngeren Bruder Theo genutzt hatte.
Doch dem Fall von Tomas/Tom Freud wohnt noch eine weitere Schwierigkeit inne: Durch den frühen Tod von Tom Freud und die Emigration der restlichen Familienmitglieder stellt sich die Frage nach dem Verlustkontext: Wo verblieb der Berliner Nachlass von Tom Freud nach 1930 und warum ist eine größere Anzahl ihrer Bücher im Bestand Wolff erhalten?
Dr. des. Nora M. Kissling war von 2022-2024 Wissenschaftliche Mitarbeiter:in/Projektleitung des vom Deutschen Zentrums Kulturgutverluste geförderten Projekts zum Buchbestand Ernst Wolff an der Moses Mendelssohn Akademie Halberstadt.
Literatur:
Barbara Murken: „…die Welt ist so uneben…“. Tom Seidmann-Freud (1892–1930): Leben und Werk einer großen Bilderbuch-Künstlerin. In: Luzifer-Amor. Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse. Heft 33, 2004