Mit dem Sieg über Nazi-Deutschland wurden die Alliierten mit der Beute des größten Raubes der Geschichte konfrontiert. Überall in Deutschland wie auch in den ehemals besetzten Gebieten gab es Depots voller Objekte, die durch die Nationalsozialisten systematisch in ganz Europa geraubt worden waren. Vor dem Genozid der jüdischen Bevölkerung stand ihre systematische Enteignung. Alles, was „verwertbar“ war, wurde genommen: ganze Wohnungseinrichtungen, inklusive Geschirr und Textilien, Gold- und Silberobjekte, Bücher, Kunstgegenstände.
Die Central Collecting Points
Die alliierten Streitkräfte wussten von diesem enormen Kunstraub und schickten Spezialisten: Kunsthistoriker:innen und Museumskurator:innen suchten zunächst nach den Depots, in denen das Raubgut durch die Nationalsozialisten eingelagert worden war – in Bergwerkstollen, Kirchen, Klöstern, Schlössern und Salzminen entdeckten sie unglaubliche Mengen an geraubten Objekten, darunter Gold und Meisterwerke der europäischen Malerei. Die amerikanischen Expert:innen, die sogenannten Monuments Men (and Women), versuchten, die gefundenen Objekte zu sichern.
Durch die massiven Kriegseinwirkungen gab es kaum noch intakte Gebäude, von einer intakten Infrastruktur ganz zu schweigen. Dennoch wurden in ganz Deutschland Central Collecting Points eingerichtet, in welche alle Gegenstände, die in den Raubgut-Depots gefunden worden waren, gebracht wurden. Dies diente zum einen der Sicherung vor erneutem Diebstahl und zum anderen der Recherche nach der Herkunft der Objekte und einer damit verbundenen Rückgabe.
Die amerikanische Besatzungszone war in Süddeutschland mit den größten Funden an Nazi-Raubgut konfrontiert. In München wurde daher der größte Collecting Point direkt in der ehemaligen Parteizentrale der NSDAP eingerichtet. Ein weiterer Collecting Point befand sich in Wiesbaden im Landesmuseum, welches den Krieg ebenfalls einigermaßen intakt überstanden hatte. In Marburg wurde das Staatsarchiv genutzt und in Offenbach ein auf geraubte Archive spezialisierter Collecting Point etabliert. (Abb. 1)
Die Property Cards
Für Karteikarten, die sogenannten Property Cards, wurden die einzelnen Objekte erfasst, zudem fotografiert, vermessen und auf Schäden begutachtet. Diese Property Cards dokumentieren nicht nur das Objekt, sondern sie geben auch Hinweise, wo es wann gefunden und an wen es weitergebeben wurde. Diese Karten erzählen heute, 80 Jahre nach Kriegsende, nicht nur vom Raub, sondern auch von den Opfern bzw. Täterinnen und Tätern.
Für die Wissenschaft, speziell für die Provenienzforschung, stellen diese Dokumente aus den Collecting Points eine sehr wertvolle Quelle dar. Daher wurde für den Münchner Collecting Point 2009 eine Datenbank eingerichtet, in welcher man nach Objekten, aber auch nach Personen recherchieren kann. Doch was ist mit den Karten aus Wiesbaden und Marburg? Das Bundesarchiv Koblenz hat diese Karten qualitativ hochwertig digitalisiert, sie sind abrufbar nach Anmeldung, aber sie sind nicht durchsuchbar.
Die digitale Plattform des JDCRP
Das Jewish Digital Cultural Recovery Projekt (JDCRP) hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Dokumentation des NS-Raubes durch die Alliierten auf einer digitalen Plattform zugänglich zu machen. Jede und jeder Interessierte soll einfachen Zugang zum Thema haben und selbst nach Personen, Objekten, Orten etc. suchen können. Die Property Cards der Collecting Points Wiesbaden und Marburg sind die ersten Dokumente, die in die digitale Plattform eingespeist wurden. Anschließend kann diese mit Informationen angereichert werden, welche direkt mit den Tätigkeiten der Collecting Points zusammenhingen, etwa Transportlisten, aber auch Dokumente zu den Rückgaben. Die Online-Schaltung der digitalen Plattform ist für Ende des Jahres 2025 geplant.
Die Property Cards werden mithilfe von OCR (Optical Character Recognition) sowie künstlicher Intelligenz transkribiert und die so gewonnenen Daten in der digitalen Plattform verknüpft. Auf diese Weise ist es möglich, Objekten durch Zeit und Raum zu folgen, sowohl zeitlich rückwärts zu den Dokumenten des Raubes als auch vorwärts zu denen der Nachkriegszeit.
Da die Schriftstücke aus den Collecting Points von alliierten Besatzungskräften angefertigt wurden, liegen die Dokumente heute nur zum Teil in Deutschland. Teilweise sind sie auf der ganzen Welt verstreut: Archive der Besatzungsmächte USA, England und Frankreich, aber auch unzählige lokale Archive in Deutschland verfügen über wichtige Archivalien. Das Team des JDCRP sucht weltweit nach relevanten Beständen, die sinnvoll miteinander ergänzt werden können: So finden sich zum Beispiel im Nationalarchiv der USA, der National Archives and Records Administration (NARA), Unterlagen aus dem Collecting Point Wiesbaden, beispielsweise Leica-Filmrollen mit Negativbildern, die die Objekte aus dem Wiesbadener Collecting Point zeigen. Bevor die Objekte damals restituiert oder treuhänderisch an Staaten übergeben werden konnten, wurden sie nochmals fotografiert.
Diese Aufnahmen werden durch das JDCRP gescannt und ergänzen die Property Cards auf der digitalen Plattform. So gelingt es, zu den geraubten Objekten noch weiteres Bildmaterial zu gewinnen. Oft sind es Fotografien, die eine eindeutige Identifizierung von Objekten ermöglichen. Insbesondere wenn es sich um Objekte handelt, die in großer Stückzahl produziert worden sind oder Beschädigungen aufweisen, wie das Beispiel einer stehenden Madonna aus Holz aus dem Wiesbadener Collecting Point (Abb. 2) verdeutlicht: Auf dem Foto ist die Madonna zu sehen. Zudem ist vermerkt, dass der rechte Arm und ein linker Finger fehlen. Dank der Aufnahme aus dem NARA wird ersichtlich, dass der Madonna auch ihr Kind fehlt. Das entsprechende Negativbild zeigt den Arm, den Finger, eine Fingerkuppe, aber eben auch eine Krone und das Jesuskind, dem selbst das Ärmchen mit der Weltkugel abgebrochen ist. Die Alliierten haben alle abgebrochenen Elemente fein säuberlich auf einen Tisch gelegt und fotografisch festgehalten.
Das JDCRP wird in den kommenden Jahren die digitale Plattform weiterentwickeln und sukzessive mit Archivmaterial füllen, das den Raub durch die Nationalsozialisten belegt. So wird es in Zukunft möglich sein, schneller und ohne aufwendige Reisen in oft weit entfernte Archive an Informationen zu kommen.
Dies wird nicht nur für die Erforschung der Herkunft einzelner Objekte im Hinblick auf deren mögliche Rückgabe von Nutzen sein. Bis heute gibt es immer noch keine genauen Zahlen zu diesem größten Raub in der Geschichte, sondern nur Vermutungen und Schätzungen. Durch die Zusammenführung der Dokumente könnte dies zukünftig genauer belegbar sein. Wir sollten dieser Aufgabe weiterhin mit Ernsthaftigkeit und Akkuratesse begegnen, wie es damals die Alliierten taten, denn hinter jedem Objekt steht ein Mensch, der Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung - oder auch Täter - gewesen sein könnte und über den wir durch die Dokumente etwas erfahren können.
Anne Uhrlandt ist Research and Documentation Officer am Jewish Digital Cultural Recovery Project, Berlin.
Literatur:
- Patricia Kennedy Grimsted: ERR Archival Guide. Reconstructing the Record of Nazi Cultural Plunder: A Guide to the Dispersed Archives of the Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg (ERR) and the Postwar Retrieval of ERR Loot, 2015–2022, online unter https://www.errproject.org/guide.php (15.4.2024)
- Iris Lauterbach: Der Central Collecting Point in München. Kulturschutz, Restitution und Neubeginn. Berlin / München 2015
Referenzen:
- Datenbank zum Central Collecting Point München: https://www.dhm.de/datenbank/ccp/dhm_ccp.php?seite=9 (13.4.2024)
- Bundesarchiv Koblenz, Inventar des Central Collecting Points Wiesbaden, B 323/586–B 323/595, https://invenio.bundesarchiv.de/invenio/direktlink/41c48233-8a8e-4388-ab39-d61945a999be/ (13.04.2024)
- Bundesarchiv Koblenz, Inventar des Central Collecting Points in Marburg, B 323/596–B 323/599, https://invenio.bundesarchiv.de/invenio/direktlink/1cb81e0c-e32f-4cdc-b76f-df16725c8c17/ (13.04.2024)