Ehepaar auf historischem Foto
NS-Raubgut

Erinnerung als Aufgabe

Julia Rosenthal im Gespräch über die Rekonstruktion der Kunstsammlung ihrer im Nationalsozialismus verfolgten Familie
Lena Grundhuber

Julia Rosenthal stammt aus einer Dynastie von bedeutenden Antiquaren – schon ihr Urgroßvater Jacques (1854-1937) betrieb in einem herrschaftlichen Palais in der Münchner Brienner Straße eines der renommiertesten Antiquariate Europas. Doch mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurden die Rosenthals als Juden verfolgt, mussten ihr Geschäft auflösen und verloren unter anderem auch ihre private Kunstsammlung.

Jacques starb 1937 in München, seiner Frau Emma gelang im letzten Moment die Flucht. Ihr Sohn Erwin, seine Frau Margherita und ihre fünf Kinder waren da längst im Ausland. Erwin und Margherita wollten sich zunächst in Paris eine neue Existenz aufbauen, doch mit dem Kriegsbeginn 1939 zerschlug sich dieser Plan. Das Ehepaar ging schließlich in die USA, ihre Pariser Wohnung wurde später von den deutschen Besatzern geplündert.

Ihr Sohn Albi baute in England ein neues Geschäft auf und sollte sich vor allem als Musikantiquar einen Namen machen. Albi Rosenthals Antiquariat wird von seiner Tochter Julia in der Nähe von Oxford weitergeführt, als Antiquarin in der fünften Generation. Die Geschichte ihrer Familie beschäftigt die 70-Jährige bis heute intensiv: Zusammen mit dem Münchner Zentralinstitut für Kunstgeschichte forscht sie im Rahmen eines vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste geförderten Projekts der im Nationalsozialismus verlorenen Kunstsammlung und den Wohnungsinventaren ihrer Familie in München und Paris nach.

Wie gehen Ihre Nachforschungen voran?
Mit Hilfe der Münchner Forscher sind wir weit vorangekommen. Wir haben das große Glück, dass wir so viele Dokumente zur Verfügung haben – Fotos, Briefe, Lagerbücher, sogar ein Inventar, das mein Großvater Erwin 1957 aus dem Gedächtnis gezeichnet hat. Das ist ein weites, weites Feld und ich versuche, seit mehr als zwanzig Jahren wie eine wahnsinnige Dirigentin, diese Sachen dahin zu bringen, wo sie der Forschung dienen können. Denn meine Familie ist überall in der Diaspora verstreut, in Amerika, Israel, England…

Ausgangspunkt war München, wo mehrere Rosenthals Antiquariate betrieben. Wie hat sich Ihr Vater Albi an seine Kindheit in München erinnert?
Da gibt es wunderschöne Erinnerungen. Die Rosenthals hatten ja das schöne Gebäude in der Brienner Straße: Das Antiquariat war unten, dann kam die Wohnung von meinen Urgroßeltern Emma und Jacques, darüber die Wohnung von meinen Großeltern Erwin und Margherita, die Kinder, und schließlich die Dienstboten - jedes Stockwerk hatte seine eigene Identität. Von meinem Vater gibt es aus dieser Zeit einige schöne Anekdoten: An einem Sonntag ging er mit seinem Kinderfräulein in den Park, wo Musik spielte. Er hatte so viel Ehrfurcht vor den Instrumenten, dass er sie streichelte und dabei zitterte, mit sieben Jahren wollte er dann eine Geige haben. Als Dreijähriger brach er in Tränen aus und war untröstlich, weil er eine Schnecke gesehen hatte mit einem kaputten Haus. Ich sage immer: Sein ganzes Leben war „making it up to the snail“ – es für die Schnecke wiedergutzumachen. Seit seinem 10. Lebensjahr wollte er inbrünstig ein Engländer werden, denn England war für ihn das Zentrum aller Werte, die er schon ganz früh als verschwindend in Deutschland wahrnahm – emblematisch für die Freiheit. Albi war sehr breit gebildet und natürlich äußerst geprägt von seinen europäischen Wurzeln. Wenn meine Großmutter im Lift feststeckte, hat sie Dante auswendig zitiert. Ich habe meine Ahnen sehr sorgfältig ausgesucht.

Bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten war Ihre Familie also ein angesehener Teil der Münchner Gesellschaft…
Ja, doch dann sollte mein Großvater Erwin im Jahr 1935 innerhalb von vier Wochen die ganze Firma mit ihrem enormen Vorrat von Stücken auflösen. Ich bin immer noch in Verbindung mit dem Sohn von Hans Koch, dem Mitarbeiter, der die Firma übernahm. Das war zwar eine „Arisierung“, aber Herr Koch wollte den Namen Rosenthal behalten, das war selten. Fast die ganze engere Familie war da schon sicher im Ausland. Jacques starb 1937 in München, für seine Frau Emma waren die letzten Jahre äußerst tragisch. Erstens hatte sie ihren Mann verloren - und dann sah sie zu, wie all ihre schönen Sachen bei Weinmüller versteigert wurden. Sie hat sehr gelitten, auch unter der Besteuerung durch die Judenvermögensabgabe und die Reichsfluchtsteuer. Das war die doppelte Beleidigung, nachdem sie alles verloren hat. Sie hat sich große Sorgen um die Enkelkinder und Kinder gemacht.

Ihre Familie verlor neben dem Geschäft in München auch die private Kunstsammlung, das Inventar des Hauses in der Brienner Straße und der späteren Wohnung in Paris. In Ihrem Projekt gehen sie seit 2020 dem Verbleib dieser Bestände nach. Wie begann Ihre Suche?
Bereits im Jahr 2002 gab es die große Rosenthal-Ausstellung im Jüdischen Museum München. Danach habe ich mehr und mehr Dokumente an das Münchner Stadtarchiv gegeben, das nun einen enormen Rosenthal-Nachlass betreut. Der Impuls zu dem Projekt mit dem Deutschen Zentrum Kulturgutverluste war ein Buch aus dem Jahr 1914: Mein Großvater Erwin hatte seinem Vater Jacques zum 60. Geburtstag diesen kleinen Katalog der privaten Kunstsammlung zusammengestellt, als Zeichen seiner Sohnesliebe, als Huldigung der kunsthistorischen Umgebung und der väterlichen Liebe, die ihn so tief geprägt hat. Eines dieser Bilder wurde vor etwa fünf Jahren bei Sotheby‘s aus dem Nachlass eines Sammlers eingeliefert, Crivelli zugeschrieben. Wir haben den Verkauf um einige Jahre verschieben können, weil wir eine gute, gründliche Forschung über dieses Bild machen wollten, und schließlich eine Einigung erzielt. Dabei habe ich Franziska Eschenbach vom Zentralinstitut für Kunstgeschichte kennengelernt, ich brachte den Jubiläumskatalog meines Urgroßvaters nach München und wir sahen, dass da noch andere Schätze dabei waren. Dann dachten wir, wir sollten die Suche erweitern – und glücklicherweise bestand der Kontakt mit Ihrer Stiftung schon. Ich finde es wunderbar, dass solche Projekte finanziert werden und bin tief beeindruckt von der Entwicklung der Provenienzforschung, die vor einigen Jahren noch eine junge Disziplin war.

Haben Sie inzwischen einen Überblick, was alles noch verloren ist?
Grosso modo wissen wir ziemlich viel über die Kunst, aber über Möbel, Tapisserie und alles andere müssen wir noch Entdeckungen machen. Es gibt unter anderem eine verschollene Buch- und Grafiksammlung, über die wir noch kaum etwas wissen. Ich habe keine genaue Zahl, wie viele Objekte wir zurückerhalten haben, aber ich habe zum Beispiel zwei wunderschöne Ölgemälde mit Porträts von Emmas Eltern bei mir hängen, und auch Emmas Musikschrank steht bei mir – sie war sehr glücklich darüber, dass ihr Enkel Albi ihre Leidenschaft für Musik weitertrug. Zuhause habe ich so meine „Münchner Ecke“. Aber die Restitutionsangelegenheiten sind kompliziert. Wir waren im Handel tätig, und viele Sachen wurden unter Druck verkauft. Das war ganz klar inkorrekt, aber wir hatten auch die Firma in der Schweiz und Kollegen, bei denen Sachen zu treuen Händen gelassen wurden, als Depositum oder in Kommission. Alle diese Nuancen bei jedem Stück zu unterscheiden, ist sehr schwierig, weil der Beruf so kollegial ist. Außerdem wechseln immer wieder die Namen der Künstler. Alle zehn Jahre kommt ein neuer, das ist wie mit den Ehemännern von Elizabeth Taylor!

Also kann es wegen der wechselnden Zuschreibungen von Kunstwerken schon schwierig sein, die Werkidentität festzustellen.
Ja. Außerdem sehe ich keinen Vorteil darin, dass Stücke, die seit den 1930er Jahren in Institutionen und heute Teil von wichtigen Sammlungen sind, unter neun Erben aufzuteilen, wenn die Werte gar nicht so groß sind. Natürlich gibt es auch andere, sehr wertvolle Bilder im Privatbesitz wie z.B die Cranachs, aber dazu hat man kaum Zugang. Ich finde, Auktionshäuser haben hier eine große Verpflichtung zur Sorgfalt. Bis vor kurzem waren sie sehr dilettantisch, interessierten sich nur für schnellen Gewinn und wollten nicht die Zeit investieren, an jedem Stück zwei Jahre zu forschen. Heute machen sie das besser als früher, sie müssen sich jetzt die Zeit nehmen. Man kann nur hoffen, dass wenn wieder etwas zutage kommt, das eine sorgfältigere Behandlung erfährt als früher.

Ihre engeren Familienmitglieder haben viel verloren, konnten sich aber alle ins Ausland retten. Wie erging es dem anderen Zweig der Familie?
Drei der vier Kinder von Jacques‘ Bruder Ludwig sind in Theresienstadt ums Leben gekommen und meine Cousine leidet enorm, wenn sie nach München kommt. Sie ist viel stärker betroffen von dem ganzen Horror ihrer Vergangenheit. Dieser Zweig der Familie teilt aus guten Gründen nicht meine Begeisterung für die Nachforschungen in der Vergangenheit, sie hatten es viel schwerer.

Wie war das Verhältnis Ihres Vaters zu Deutschland - und wie stehen Sie heute dazu?
Mein Vater Albi wollte nie wieder nach Deutschland zurück, aber er hat als Musikantiquar mit seinem kulturellen Engagement eine bedeutende Rolle für Deutschland als Vermittler gespielt. Wir haben in den 80er und 90er Jahren viele wichtige Handschriften aus mehreren Bereichen für deutsche Institutionen eingeworben. Ich möchte meinen Onkel Bernard zitieren, der im Vorwort zu dem Buch über „Die Rosenthals“ schrieb: „Heute mehr als je ist Versöhnung unsere einzige Hoffnung in dieser Welt.“ Ich finde, das stimmt jetzt mehr denn je.

Sind Sie die Einzige in der engeren Familie, die sich so für die Familiengeschichte interessiert?
Nein, die anderen interessieren sich ebenfalls sehr, aber für mich ist es eine Erfüllung – ich hatte immer eine Leidenschaft für Familienfotos und Archivalien. Einige Dinge gehen durch mein ganzes Leben mit mir, es sind Erinnerungen an die Vergangenheit. Doch letzten Endes muss man sich immer erinnern, was Stefan Zweig über seine eigene Sammlung sagte: Dass er sich nie als Besitzer betrachtete, sondern nur als Betreuer auf Lebenszeit. Ich möchte, dass der Familiennachlass nicht nur eine Vergangenheit, sondern auch eine Zukunft hat. Ich finde, das ist eine enorme Verpflichtung, eine Verantwortung und ein Bedürfnis.

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In Zusammenarbeit mit dem Zentralinstitut für Kunstgeschichte in München forscht Julia Rosenthal seit 2020 in einem vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste geförderten Projekt nach dem Verbleib der Kulturgüter ihrer Familie.

Mit herzlichem Dank an Franziska Eschenbach vom Zentralinstitut für Kunstgeschichte und Anton Löffelmeier vom Stadtarchiv München für die Unterstützung bei der Arbeit an diesem Beitrag

 

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Julia Rosenthal vor der ehemaligen Wohnung ihrer Familie in der 45 Rue Emile Ménier, Paris