Am Bahnhof von Chemnitz kommt in den 1920er Jahren eines Tages eine große Kiste aus Italien an. Ihr Empfänger, der jüdische Strumpffabrikant Ludwig Salgó (1889-1943?), lebt mit seiner Frau Laura und ihrer Tochter Lilly in der Weststraße 24. Lilly erinnert sich später an die freudige Aufregung über die Ankunft der Sendung aus Italien. Es handelt sich um ein Gemälde mit einer Jagdszene: rechts ein Reiter auf weißem Pferd, in der Mitte zwei große Hunde. Ludwig Salgó hatte das von einem Mitglied der venezianischen Malerfamilie Bassano im 16. Jahrhundert angefertigte Bild gekauft.
Die Salgós stammten ursprünglich aus Budapest und waren um 1920 nach Chemnitz gezogen. Hier hat Ludwig Salgó zunächst Erfolg als Geschäftsmann. Die Repressalien der Nationalsozialisten betreffen jedoch auch ihn und seine Familie. Das Geschäft geht bankrott. 1934 ist die Familie gezwungen, in eine kleinere Wohnung in der Weststraße 55 umzuziehen. Dort ist das italienische Altmeistergemälde um 1938 noch auf einem Foto zu sehen. Die achtzehnjährige Tochter Lilly verlässt 1936 Chemnitz und geht nach Berlin, um mit Gelegenheitsarbeiten ihre Eltern finanziell zu unterstützen. Ihre Mutter ist an Diabetes erkrankt. Jüdische Patienten können ihre Behandlungen seit 1933 nicht mehr über die Krankenkassen abrechnen. Sie dürfen auch nicht mehr von nichtjüdischen Ärzten behandelt werden.
Lilly Salgó gelingt die Flucht: Sie kommt am 11. September 1938 in New York an. Ihre Eltern werden 1939 in Chemnitz zum Umzug in ein sogenanntes Judenhaus in der Annaberger Straße 4 gezwungen. Am 3. Juli 1942 werden sie ins Ghetto Belzec deportiert. Nach 1945 sucht Lilly Salgó ihre Eltern vergeblich. Sie werden für tot erklärt.
Was geschah inzwischen mit dem Bassano? Nach dem Zweiten Weltkrieg erfährt Lilly Salgó vom ehemaligen Anwalt ihres Vaters, der inzwischen in Berlin lebt, dass das Bild mit dem ehemaligen Hausarzt der Salgós nach Süddeutschland gekommen sei. Es ist möglich, dass das Bild gegen ärztliche Behandlung eingetauscht wurde. Hier verliert sich die Spur.
Als die Familie von Lilly Salgó 2020 die Suche nach dem Bild wieder aufnimmt, kontaktiert sie den „Help Desk“ am Deutschen Zentrum Kulturgutverluste. Es wird ihr zunächst geraten, das Bild auf der Lost Art-Datenbank zu registrieren. Sollte es im Kunsthandel oder in einem Museum auftauchen, wäre es so identifizierbar und Kontakt mit den Erben könnte aufgenommen werden. Dabei ist das Foto aus der Wohnung in Chemnitz ein seltener Glücksfall: Auch wenn nur ein Teil des Gemäldes zu sehen ist, ist dies doch wesentlich mehr an Information als bei vielen anderen verfolgungsbedingten Verlusten, wo manchmal nur ein Künstlername auf einer Liste erscheint.
Gleichzeitig beginnt der „Help Desk“ mit weiteren Recherchen. Die Wiedergutmachungsakten nach 1945 werden als Scan eingeholt. Leider findet sich dort kein weiterer Hinweis auf das Bild, obwohl die frühere Haushälterin zu Protokoll gibt, im Haus der Salgós hätten sich Ölgemälde befunden. Das Fehlen von Details zum Kunstbesitz ist in solchen Unterlagen nicht ungewöhnlich, denn die für die Anspruchsteller aufwendigen, oftmals demütigenden und langwierigen Verfahren konzentrierten sich häufig auf finanzielle Werte wie Aktien, Bankkonten oder Pensionsansprüche, da die Erfolgsaussichten bei Einrichtungsgegenständen und Hausrat offenbar relativ gering eingeschätzt wurden.
Der „Help Desk“ konnte jedoch die Spur des ehemaligen Hausarztes der Familie Salgó aufnehmen. Er starb Anfang der 1970er Jahre kinderlos in Bayern. In den wenigen Unterlagen, die aus der Zeit nach dem Tod seiner Witwe 1981 noch erhalten sind, gibt es einen knappen Hinweis auf Gemälde, die bei einem Münchner Auktionshaus eingelagert waren. Sie sollten an ein Patenkind vererbt werden. Rücksprache mit dieser Familie ergab jedoch, dass sie dort nie eintrafen. Leider gibt es zu den eingelagerten Bildern keine weiteren Informationen. Eine Nachfrage beim betreffenden Auktionshaus blieb ebenfalls ohne Ergebnis. Eine Anfrage bei dem Amtsgericht in Bayern, das die Testamente des vormaligen Hausarztes und seiner Witwe verwahrt, ergab den Namen eines damals eingesetzten Testamentsvollstreckers. Leider hatte jedoch auch sein Büro keine Unterlagen mehr aus dieser Zeit.
Der „Help Desk“ sucht weiter nach Hinweisen auf einen Verkauf dieses Gemäldes um 1981 im Raum München. Der Kontakt zum Archiv des Kunsthändlers Böhler am Zentralinstitut für Kunstgeschichte in München, die Recherche nach Ausgaben der Kunsthandels-Zeitschrift „Die Weltkunst“, die Suche nach Auktionsergebnissen online und in Bibliotheken blieben leider bislang ohne Erfolg.
Wir hoffen, dass die Suche der Familie nach dem verlorenen Bassano-Gemälde bald ein Ende findet und eine faire und gerechte Lösung gefunden wird. Es besteht die Möglichkeit, dass es sich seit den 1980er Jahren im Raum München befindet. Seine Geschichte und das Schicksal seiner ursprünglichen Eigentümer sollten nach so vielen Jahren endlich an die Öffentlichkeit kommen.
Text: Susanne Meyer-Abich, Leiterin des Help Desk für Anfragen zu NS-Raubgut.